Editorial der Festivalleitung
Wir freuen uns sehr, dass wir uns wieder treffen: internationale Kunst, Sie und wir – alle auf einer Wiese mitten in Europa. Wir freuen uns – und gleichzeitig hatten wir uns dieses Jahr anders vorgestellt. Wir waren gespannt, wie sich die Gesellschaft transformieren würde – vielleicht war das naiv. Einige hatten still und heimlich auf eine Art Zeitenwende gehofft, gedacht, dass Klimawandel, «Black Lives Matter» und Pandemie zumindest bescheidene gesellschaftliche Veränderungen nach sich ziehen würden. Be careful what you wish for: Eine Zeitenwende haben wir bekommen. Doch wer hat sich vorgestellt, dass es sich dabei um einen Angriffskrieg gegen die Zivilbevölkerung und die anschliessende – weitgehend nicht diskutierte – Aufrüstung vieler europäischer Staaten handeln würde?
Mögen Krieg, Flucht und Vertreibung für Europa die Rückkehr einer überwunden geglaubten historischen Phase sein, für viele unserer Künstler*innen gehören sie zum Alltag. Es gab vermutlich kein einziges Theater Spektakel, an dem nicht davon auf der Bühne erzählt wurde. Und dabei ist Krieg nicht das einzige Thema, das nähergekommen ist. Produktionen dieses Festivals beschäftigen sich mit Nationalismus, Weltenden, der Idee von Europa, postpandemischen Gesellschaften oder aber mit bewegenden Schicksalen in einer unübersichtlichen Welt, mit Hoffnung, Nähe und Liebe. Sie spielen auf nordafrikanischen Marktplätzen und in Familien, auf babylonischen Türmen und in einer riesigen Pappkiste, am Seeufer und tief unter der Meeresoberfläche, in Computerspielen und an vielen Orten, von wo die Welt anders aussieht. Die Begegnung unterschiedlicher Blickwinkel in einer postkolonialen Realität bleibt ein zentrales Anliegen des Festivals. Vor dem Hintergrund immer weiterer nicht für möglich gehaltener Ereignisse erscheinen überraschende Perspektiven und Fantasien internationaler Künstler* innen notwendiger denn je.
Zwei Themen ziehen sich dabei durch mehrere Projekte: Auf verschiedene Weise taucht Wasser als Medium und Ressource auf – sei es in ganz konkreten Experimenten mit Gesang oder Tanz im See, in einem Dokumentartheaterstück zu Deep Sea Mining oder in Geschichten über Wasser als umkämpfte Ressource an den Grossen Afrikanischen Seen. Ähnlich unterschiedlich sind die feministischen Perspektiven im Programm, die vom gewaltigen, grossen Bildertheater Phia Ménards über eher leise biographische Short Pieces und die Gedanken der Anthropologin Rita Segato zu explizit politischen Arbeiten reichen. Wir haben dieses Jahr drei Künstler*innen eingeladen, die ihre Arbeit gleichermassen aktivistisch und als Kunst verstehen. Das chilenische Kollektiv LASTESIS hat eine theatrale Form des Protests gegen die Gewalt an Frauen entwickelt, eine Form, die überall auf der Welt nachgeahmt wurde. Der belarussische Künstler Igor Shugaleev reagiert mit seiner Performance auf die wachsende Anzahl politischer Gefangener in Belarus und anderswo. Und Pussy Riot sind, nachdem die Letzte von ihnen im Frühsommer Russland verlassen hat, um der Verhaftung zu entgehen, sofort auf eine Tour durch Europa gestartet.
Mehrere Produktionen entstehen nicht nur neu in Zürich, sondern sogar ortsspezifisch für die Saffainsel. Die Choreografin Meg Stuart probt hier mit internationalen Kollaborateur*innen und Performer*innen des Zürcher Kollektivs The Field im Wasser, am Wasser und auf schwimmenden Ponton- Inseln. Die Komponistin und Performerin Lina Lapelytė arbeitet mit dem Seefelder Kammerchor an einem musikalischen Projekt im See, und der bildende Künstler Ragnar Kjartansson hat Skizzen geschickt, nach denen wir ihm für seine Performance gerade ein kleines Haus auf die Insel bauen. Nach vielen Remote-Projekten in der Pandemie produzieren wir diese Arbeiten in Zürich als lokalinternationale Hybride. Darüber hinaus arbeiten wir noch stärker als zuvor gemeinsam mit anderen europäischen Festivals daran, den Künstler*innen ein nachhaltigeres Touren zu ermöglichen oder andere Anschlussprojekte zu verfolgen. Sicher sind das noch nicht die Antworten auf die Frage, wie internationale Kunst postpandemisch ökologischer produziert und präsentiert werden könnte, aber es sind Versuche, und das ist es, was wir tun müssen – mindestens so lange wir auf die Transformation hoffen.
So befinden wir uns bereits seit Anfang Juni in der wunderbaren Gesellschaft internationaler Künstler*innen und begleiten sie bei der Entstehung ihrer Arbeiten für Zürich. Wir ahnen also schon, was da für schöne und spannende Projekte auf uns zukommen. In diesem Jahr können wir auch wieder den Grossteil unserer Spielstätten und Restaurants aufbauen und freuen uns sehr auf drei Wochen mit aussergewöhnlicher Kunst aus der Welt und mit Ihnen – auf einer Wiese mitten in Europa.
Die Festivalleitung
Matthias von Hartz, Sarah Wendle, Veit Kälin