«Das Leben ist keine Kleinigkeit für uns»
Interview mit Tiziano Cruz
Der in Buenos Aires lebende und aus der Provinz Jujuy stammende interdisziplinäre Künstler Tiziano Cruz (*1988) findet klare Worte für seine Arbeit: «Wenn etwas aus der privaten Sphäre in die Öffentlichkeit eindringt, dann geschieht genau in diesem Moment ein politischer Akt.» Am diesjährigen Zürcher Theater Spektakel ist er mit seinem neuesten Stück «Soliloquy» zu Gast, einer Performance, die die Geschichte seiner Mutter, mit seiner Biografie und seinem Status als Indigener Kunstschaffender innerhalb der argentinischen Gesellschaft verknüpft. Cruz nimmt dabei immer wieder Bezug auf seine Migration von der ärmeren Landregion in die Metropole und erzählt, wie ihn – und unzählige andere Menschen – dies zu Fremden im eigenen Land macht. Mit diesem sprachlich und atmosphärisch dichten Solostück kommt der Künstler nun das erste Mal nach Europa, nachdem er 2019 zum Gewinner der Biennale für Junge Kunst Argentinien gekürt und mit mehreren nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet wurde, unter anderem vom National Institute of Performing Arts Uruguay und dem Institute of Culture of Baja California, Mexico. Seine Arbeiten sind meist multimedial und bewegen sich zwischen Performance, Theater und künstlerischer Intervention im öffentlichen Raum. Die in Zürich lebende Autorin Anna Froelicher hat sich mit Cruz für ein virtuelles Interview verabredet, um sich über «Soliloquy» zu unterhalten und der Frage nachzugehen, warum alle gleich sind, aber manche etwas gleicher.
Anna Froelicher Dein aktuelles Stück «Soliloquy» ist Teil einer Familien-Trilogie. Im ersten Stück ging es um deinen Vater, im zweiten um deine Mutter und die dritte Performance wird von deinen Geschwistern handeln. Was hat dich dazu bewogen, deine Familie in deine Kunst zu integrieren?
Tiziano Cruz Ich hatte eine Schwester, die 2015 im Alter von 18 Jahren in einem öffentlichen Krankenhaus im Norden Argentiniens – in der Provinz, in der ich geboren wurde – starb. Todesursache: Verletzung der medizinischen Sorgfaltspflicht. Sie wurde gequält und dann einfach ihrem Tod überlassen. Im selben Jahr führte mein Vater den ersten Marsch des feministischen Kollektivs #niunamenos an. Mein Vater ging vorher nie auf die Strasse, aber an diesem Tag, ohne die Geschichte der feministischen Bewegung Argentiniens zu kennen, bat er die Welt um Gerechtigkeit. Ich konnte nicht so tun, als ob nichts passiert wäre. Ich verstand, dass man uns sterben lassen würde, wenn wir (meine Eltern und meine Geschwister) aus irgendeinem Grund auf das Gesundheitssystem zurückgreifen müssen. Ich verstand auch, dass es mit der sozialen Klasse zu tun hatte, der wir angehörten. Wir waren arm, hatten Indigene Merkmale, wir sprachen kein korrektes Spanisch. Ich schrieb mein erstes Stück, um uns zu retten, damit die Leute uns erkennen und nicht so einfach sterben lassen. Damit jemand sagen kann: «Das ist der Vater, das ist die Mutter, das ist der Bruder von Tiziano, wir können sie nicht sterben lassen.» Ich verstand auch, dass dies nicht nur meiner Schwester widerfuhr, sondern Hunderten von Mädchen, Frauen und Männern, die wie wir sind: ein Fehler im System. So beschloss ich mich auf dem Kunstmarkt feilzubieten, denn dort kann ich nicht nur mich selbst, sondern eine ganze Gemeinschaft retten. Ich komme nicht drum herum, zu erwähnen, dass es in all dieser Zeit Indigene Gemeinschaften gab, die es heute nicht mehr gibt und die, die übrig geblieben sind, kämpfen, um bleiben zu können.
AF «Soliloquy» ist auch ein Stück über Unsichtbarmachung. Es erzählt eine sehr spezifische, regionale Geschichte aus Sicht eines Künstlers, der in eine Hauptstadt gekommen ist und plötzlich zum Migranten im eigenen Land wird. Was bedeutet Sichtbarkeit für dich?
TC Ich pflege zu sagen, dass egal welchen Platz sich meine Gemeinschaft aneignet, wird es immer Menschen geben, die die Rechtfertigung unserer Existenz in Frage stellen, die uns unseren Platz wegnehmen wollen. Ob das nun bewusst oder unbewusst geschieht – ein Raub ist es allemal. Das Leben in einer Gesellschaft, die sich danach sehnt, eine weisse Nation zu sein, erzeugt eine Unsichtbarmachung und eine Jagd auf unsere «nicht-normalen» Körper, die ausserhalb der Logik des hegemonialen Begehrens stehen.
AF Wie verhält sich dein Körper zur Kunstwelt? Was hat sich für dich seit deinem Ankommen in Buenos Aires und der dortigen Kunstszene verändert?
TC Ich habe meinen Körper immer als einen Widerspruch in sich selbst gesehen. In meinem Körper tobt ein Kampf. Manchmal jedoch beschliesse ich ihn in eine Ware zu verwandeln, um die hungrigen Mägen des Kapitalismus zu sättigen. Mein Körper – müde, kaputt, wieder und wieder vergewaltigt – ist die Nahrung des Marktes. Perverserweise ist dies die einzige Möglichkeit für mich oder meine Gemeinschaft zu überleben – und ich sage überleben, denn was wir haben, ist kein Leben. Wir leben nicht, wir überleben.
In den letzten Jahren hat sich in Buenos Aires das Konzept des «Progressivismus» durchgesetzt. Es gehört zum guten Ton über Minderheiten und Dissidenzen (Kategorien, denen wir nahezu immer zugeordnet werden) zu sprechen. Ob das nun gut oder schlecht ist, darüber müssen wir nicht diskutieren. Das Problematische daran ist die Zentralität, die vorherrschende Hegemonie, die uns vorschreibt, wie wir über diese «Minderheiten» reden, wie wir sie zeigen und was wir über sie sagen. Dieser Trend begann vor allem in der Kunstszene der Hauptstadt und breitete sich dann auf die gesamte nationale Kunstwelt aus. Es wird über uns gesprochen, aber wir haben nur selten die Möglichkeit, unsere Geschichte selbst zu erzählen.
Ich mache seit mehr als einem Jahrzehnt Kunst und kopuliere mit dem Markt. Sprechen kann ich allerdings erst jetzt, seitdem ich so etwas wie eine Stimme habe. Erst seit kurzem kann ich sagen, woher ich wirklich komme, nämlich aus einer Stadt namens San Francisco im Departamento Valle Grande in der Provinz Jujuy. Ich habe meine Herkunft immer geleugnet, denn man hat uns glauben lassen, dass es nicht richtig ist, ein Nachkomme der Ureinwohner*innen zu sein oder eine bestimmte Hautfarbe zu haben. Also habe ich immer gesagt, dass ich aus einem Ort weiter im Zentrum komme. Erst seit wenigen Jahren und vor allem im Werk «Soliloquy» kann ich darüber sprechen, wer ich bin; kann ich über die Welt sprechen, in der ich leben musste – und sie in Frage stellen. Erst seit kurzem kann ich über das kollektive Gedächtnis jener verlorenen und vergessenen Völker im Norden Argentiniens sprechen; kann ich über jene Mütter sprechen, die die Mütter meiner Mutter waren und es in einem bestimmten Moment der Geschichte bevorzugten, ihre Kinder zu ertränken, statt sie von den Kolonisatoren versklavt aufwachsen zu sehen.
AF Du sprichst im Kontext deiner Arbeit immer wieder über Aporophobia, also der Angst der oberen, privilegierten Klasse vor der Konfrontation mit der unteren Klasse. Wo zeigt sich dies für dich auch im Umgang mit Kunst und Künstler*innen?
TC Aporophobie ist die Angst vor den Armen. Meine Familie ist arm. Arm zu sein, bedeutet in Argentinien weniger als den Mindestlohn zu verdienen. Ausserdem fehlen viele öffentliche Dienstleistungen und diejenigen, die existieren – wie zum Beispiel Gesundheit, Bildung, Politik, ganz zu schweigen von der Kunst –, gibt es für uns nicht. Die Armut in Argentinien ist oft Teil der ländlichen Regionen, der Reichtum konzentriert sich in den Grossstädten. So konfrontiere ich die Welt, die für mich eigentlich schon kaputt ist, denn der Wunsch nach einer besseren Welt ist persistent. Ich bin von zu Hause weggegangen; wir sind von zu Hause weggegangen, weil wir ein Leben wollten: Das ist keine Kleinigkeit für uns. Man wird sagen, dass sich die Armut in meiner Arbeit in der Abwesenheit grosser Szenografien oder grosser szenischer Vorrichtungen zeigt. Dem würde ich zustimmen, ja, aber trotz der sehr geringen Ressourcen mit denen wir arbeiten, schöpfen wir die Möglichkeiten maximal aus. Viele suchen nach einem Weg, ihre Armut zu verstecken. In meinem Fall ist es umgekehrt, ich zeige die Armut; ich zeige die Klasse, die ich repräsentiere.
AF Neben deinem Schaffen als Künstler und Performer, bist du auch als Dozent und Kulturvermittler tätig. Die Gründung der Plattform ULMUS, die sich auf die Vermittlung zwischen verschiedenen kulturellen Organisationen in Argentinien und seinen Nachbarländern spezialisiert, ist nur eines deiner vielen Projekten. Was verbindet deine Tätigkeitsfelder miteinander?
TC Fast am Ende von «Soliloquy» heisst es: «Dieser Weg ist ein einsamer Weg, aber das bedeutet nicht, dass er in Einsamkeit begangen wird». Dieser Satz fasst mein Leben recht gut zusammen. In den letzten zehn Jahren habe ich Menschen und Institutionen kennengelernt, die die gleichen Sorgen, die gleichen Wünsche, den gleichen Enthusiasmus für und die gleiche Sehnsucht nach einer anderen Welt hatten. Ich war nicht mehr allein, aber ich musste in die Welt hinausgehen, um diese anderen Menschen zu treffen. So habe ich meine Freundinnen Tatiana Valdez und Valeria Junquera kennengelernt, mit denen ich die ULMUS-Plattform gegründet habe. Unser Ziel: Räume schaffen, in denen sich Menschen begegnen und treffen können. So bin ich auch auf das Centro Cultural Recoleta hier in Buenos Aires gestossen, wo ich derzeit für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig bin. Die Recoleta stellt für die Kunstwelt und die Gesellschaft im Allgemeinen einen Raum der Legitimation dar: die Anwesenheit meines Körpers in diesem Raum lässt viele Menschen, die am Rande leben, denken und glauben, dass auch sie dort sein können. Das ist fantastisch. Deshalb denke ich, dass ich eine Art Vermittler bin, eine Brücke zwischen den Welten, im gesellschaftlichen Machtgefüge. Meine Teilnahme am FIBA (Festival Internacional de Buenos Aires), das dieses Jahr zum 15. Mal stattfand, ist ein weiteres Beispiel dafür, dass sich eine Tür geöffnet hat. Eine Tür, die sich nicht nur mir, sondern Hunderten von Künstler*innen, die am ästhetischen und geografischen Rand leben, geöffnet hat und zeigt, dass wir da sind und da sein werden, auch wenn die weisse Gesellschaft uns nicht sehen will.
«Soliloquy» von Tiziano Cruz feiert am 23. August 2022 Europapremiere am Zürcher Theater Spektakel. Weitere Informationen und Tickets
Credits
Text: Anna Froelicher
Übersetzung Interview (Spanisch-Deutsch): Martina Bundi
Fotos: Diego Astarita