Von Placebo-Hoffnungen und liebender Angst
(Gefühls-)Leben am Ende der Welt
Essay von Déborah Danowski
Angst und Hoffnung – Philosoph*innen haben sich ausgiebig mit beiden Affekten befasst, die, wie sie sagen, dort auftreten, wo Ungewissheit herrscht. Mit Abstand betrachtet kann man sagen, dass Hoffnung einer der emblematischen Affekte der Moderne ist. Sie beruht auf der Vorstellung, dass die Zeit stets in nur eine Richtung läuft und dass diese Richtung zu einem besseren Zustand führt. Hoffnung ist zugleich Aufschub und Erwartung: des Fortschritts, des Überflusses, der vollendeten Zivilisation, der Geschichte, eines Königreichs, einer verheissenen Zukunft. Die Moderne ist per se optimistisch, während Pessimismus gewöhnlich als rückwärtsgewandte, reaktionäre Gesinnung betrachtet wird, die typisch ist für Nihilist*innen oder für Primitivist*innen, die sich nach einem imaginären Ursprung sehnen.
Mit dem Eintritt in das Anthropozän schlagen einige Philosoph*innen jedoch vor, dass wir die Hoffnung aufgeben sollten, weil sie uns an falsche Lösungen glauben lässt – als lägen die Probleme auf der Hand und könnten auf einem Tisch ausgebreitet werden, so dass jemand – niemals wir, niemals die Kollektive, die Zivilgesellschaft, die autonomen Völker – sie verschwinden lassen könnte. Nur wenn wir die Hoffnung aufgeben, so die Philosoph*innen, werden wir handlungsund widerstandsfähig.
Aber auch die Angst wird kritisiert: Angst lähmt und tötet, vor allem wenn sie vom neoliberalen Staat vereinnahmt wird, der Katastrophen als Chancen sieht, sich seiner Gegner*innen sowie der Hindernisse und Vorschriften zu entledigen. Man könnte sagen, dass die Angst ein faschistischer Affekt ist – ein Affekt, der sich für fremdenfeindliche Nationalismen und ähnliche Tendenzen eignet und von diesen bereitwillig genährt wird. In diesem Sinne ist sie das Gegenteil von Hoffnung, denn sie schafft fiktive Feindschaften, Vorurteile und Mauern, sie macht krank und verzweifelt. Deshalb werden Umweltaktivist*innen oft des Pessimismus und des Katastrophismus beschuldigt. Es ist notwendig, die Menschen vor den Gefahren zu warnen und die Interessen der Grossindustrie und des Kapitals anzuprangern – aber wir müssen mit unseren Worten vorsichtig sein und dürfen nicht übertreiben; wenn sie zu viel Angst machen, laufen wir Gefahr, zu demobilisieren.
Die Kritik beider Empfindungen ist begründet, gleichzeitig sollten wir keine voreiligen Schlüsse ziehen, denn Affekte sind keine sentimentalen Monolithen – unsere Seelen werden von vielfältigen, beweglichen und widersprüchlichen Motiven geleitet. Ja, es gibt «Placebo-Hoffnung» – wie der Schriftsteller und Aktivist Ailton Krenak sagt –, die als Instrument des neoliberalen Kapitalismus funktioniert und als solches jedes Gefühl von Revolte und Widerstand, jeden Impuls für kollektives Handeln und die Suche nach Auswegen im Ansatz betäubt. Aber es gibt auch eine andere Art von Hoffnung. Wie können wir meinen, dass es sie nicht gebe oder dass man ihr widerstehen könne, wenn wir den indigenen Aktivisten sagen hören: «Es ist die Erfahrung, zu leben, die es uns heute ermöglicht, an morgen zu denken. Das ist keine Placebo-Hoffnung, sondern die Hoffnung des Lebens selbst, die das Leben stärkt.» Oder wenn uns Zeugnisse erreichen von Überlebenden einer der extremsten Situationen, denen Menschen durch andere Menschen ausgesetzt waren, in den Vernichtungslagern des nationalsozialistischen Deutschlands. Etwa der Bericht des Chemikers und Schriftstellers Primo Levi, der uns von der Hoffnung der Gefangenen erzählt, den Tag zu überstehen, um sich abends in die armseligen Betten legen und kurz von ihren Familien und der Welt ausserhalb des Lagers träumen zu können. Die Hoffnung dieser und anderer Menschen – und so stelle ich sie mir vor – muss kein grandioser Affekt sein, und sie setzt auch keinen geradlinig vorwärts gerichteten Zeitstrahl voraus. Damit in der Gegenwart etwas geschieht, damit es einen Ausweg gibt, braucht es nur einen Hoffnungsschimmer, den wir letztlich in jeder noch so kleinen seelischen Neigung erkennen können, die unsere Existenz erweitert.
Und ja, es gibt eine Angst, die lähmt und tötet. Aber: Einige Denker*innen sahen – insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg und nach den von den Alliierten auf Japan abgeworfenen Atombomben – in der Angst ein prophylaktisches Leiden, das uns sensibilisieren und aus dem Zustand der Lähmung befördern könnte und uns die Chance gibt, dem Ende der Welt zwar nicht zu entgehen, aber es buchstäblich zu vertagen. «Liebende Angst», wie der Philosoph und Dichter Günther Anders sie nannte (Günther Anders: Die Zerstörung unserer Zukunft: Ein Lesebuch, 2011), ist eine Angst, die uns auf die Strassen treibt, eine Angst um andere und um die nächsten Generationen. Eine kollektive und politische Angst, die ein Gefühl zurückfordert, das von der extremen Rechten und von staatlich-kapitalistischen Polizeiregimes beschlagnahmt wurde.
Anders hatte ein abruptes und absolutes Ende der Welt vor Augen: einen totalen Atomkrieg. Seitdem erleben wir einen verhältnismässig langsameren Weltuntergang, und vielleicht ist es das, was uns immer noch glauben lässt, dass wir es mit einer ethischen Entscheidung zu tun hätten, Angst zu verbreiten oder nicht, zu deprimieren oder nicht zu deprimieren, die Worte zu dosieren oder die volle Wahrheit auszusprechen.
Angesichts von Katastrophismus-Vorwürfen habe ich mich immer gefragt: Wenn ich doch Angst haben, deprimiert und traurig sein kann, weshalb sollte ich besser dagegen gerüstet sein als andere – Menschen im Allgemeinen, die mit dem berühmten gesunden Menschenverstand, die Meinungen haben und für Ideologien eine leichte Beute sind?
Doch die Kritik der Affekte beschränkt sich nicht darauf, jene Gefühle in Frage zu stellen, die wir bei anderen auslösen könnten oder sollten. Sie verurteilt auch unsere eigenen Gefühle, als ob Angst oder Hoffnung Ausdruck einer moralischen Schwäche wären.
Zwei Ereignisse der letzten zehn Jahre haben das Prinzip, dass man keine Angst haben sollte, in Frage gestellt. Das erste war die Klima-Bewegung, inspiriert von Greta Thunberg, die erklärte: Wir wollen, dass ihr Angst habt. Wir wollen, dass ihr fühlt, was wir fühlen. Wenn junge Menschen sagen, dass sie Angst haben und dass es notwendig ist, Angst zu haben, wie können «wir» dann Mässigung fordern? Erinnern wir uns auch an die Worte des Yanomami-Schamanen Davi Kopenawa: «Die Weissen haben nicht Angst wie wir, vom herabfallenden Himmel erschlagen zu werden. Doch eines Tages werden sie Angst haben, vielleicht genauso viel wie wir.» (Davi Kopenawa & Bruce Albert: The Falling Sky: Words of a Yanomami Shaman, 2013)
Das zweite Ereignis war die Covid19-Pandemie. Sie erreichte uns mit schrecklichen Szenen aus Wuhan und bald auch aus Italien, Ecuador und anderen Ländern, mit Warnungen der WHO, mit der Sperrung des Luftraums. Es gab Streit darüber, ob die Pandemie ernst zu nehmen sei oder nicht ... Und in den USA und in Brasilien ging sie mit aktiver Leugnungspolitik der Regierungen einher. Doch wir haben gelernt, dass wir, um uns und andere zu schützen, Empathie brauchen, Empathie und Angst. Angst vor der Ansteckung derer, die uns nahestehen. Angst davor, krank zu werden und ohne Beistand zu sterben. Während die Zahl der Opfer zunahm, veröffentlichten Epidemiolog* innen und andere Wissenschaftler*innen täglich erschreckende Fakten, Prognosen und Appelle. Wenn eine Katastrophe hereinbricht, ist es nicht an der Zeit, zu beschwichtigen. Diejenigen, die keine Angst haben, oder zumindest so tun, sind Trump und Bolsonaro. Bolsonaro, der Gleichgültige, der Völkermörder, und seine bedingungslosen Unterstützer*innen. Man muss ein Feigling sein, um keine Angst zu haben. Die liebende Angst hingegen hält uns zu Hause und treibt uns auf die Strasse, um die Politik des Todes zu bekämpfen. Krenak bringt es mit bemerkenswerter Klarheit zum Ausdruck: «Was mich dazu inspiriert hat, im Buch ‹Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen› Gedanken zusammenzutragen, waren die Visionen meiner Vorfahren und die Tatsache, dass ich in einer kollektiven Welt lebe. Ihre Perspektive ist eine Welt, die nur dann Sinn macht, wenn ich sie mit anderen Wesen zusammen erlebe. Das gibt mir die Freude, in ihr zu sein. Die Freude, in der Welt zu sein, besteht im Teilen. Wenn eine Spezies die andere auslöscht, wird die Welt ein trauriger und immer traurigerer Ort.» (Ailton Krenak: Ideas to Postpone the End of the World, 2020)
Etwas Ähnliches geschieht in Resonanz auf den ökologischen Kollaps, der bereits eingetreten ist – wie man den Berichten von Menschen und Völkern entnehmen kann, die bereits akut unter den Auswirkungen des Klimawandels leiden. Die Inuit in Kanada beschreiben das mildere Klima als «verheerend », «deprimierend», «frustrierend», «traurig», «beängstigend». Die Aborigines der Upper-Hunter-Region in Ostaustralien berichten von einer Art Traurigkeit, die mit dem Neologismus «Solastalgie» beschrieben wurde: Weil ihr jahrtausendealtes Land durch Kohletagebaue, Umweltverschmutzung von Fabriken und Dürre zerstört wurde, bezieht sich Solastalgie auf ein «Heimweh, das man [im Gegensatz zur Nostalgie] empfindet, wenn man noch zu Hause ist». Dieselben Menschen sprechen vom Gefühl, einen Arm zu verlieren oder in einer Falle gefangen zu sein. Und Wissenschaftler*innen bekennen ihre Traurigkeit und Verzweiflung über das Absterben der Korallen, das Schweigen der von Insekten und Vögeln entvölkerten Felder und das Abschmelzen der gigantischen Eisschilde und zugleich ihre Frustration und Depression über die Untätigkeit der Regierungen und Grossunternehmen trotz vieler Warnungen.
Indessen sind die Xapiri-Geister erzürnt, wie uns der Yanomami-Schamane Davi Kopenawa mitteilt: «Wenn all jene, die die Xapiri tanzen lassen, sterben, werden die Weissen allein und hilflos sein in ihrem Land, verwüstet und überfallen von Scharen böser Wesen, die sie erbarmungslos fressen werden. (...) Das ist es, was eines Tages geschehen kann, wenn alle Schamanen sterben und die Xapiri, wütend über den Tod ihrer Väter, vor den Menschen fliehen. Dann werden im Wald, in der Natur, nur noch die bösen ne wãri-Wesen übrig sein, die schon jetzt warnen und drohen: ‹Ma! Wenn die Yanomami verschwinden, werden wir hierbleiben, um sie zu rächen! Wir werden die Weissen, die sie gefressen haben, nicht überleben lassen!› Das ist es, was mir meine Xapiri manchmal im Schlaf erzählen, nachdem ich Yãkoana getrunken habe.»
Zorn, Wut, Rachegelüste also, aber auch Freude. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass wir uns aussuchen können, was wir fühlen, welche Gefühle wir in anderen wecken und kultivieren, als ob es zwei klar getrennte Ebenen gäbe, die wahrnehmende und die affektive, und als ob diese einfach von individuellem Willen und Vernunft bestimmt würden. Affekte sind keine atomaren und monolithischen Blöcke, sondern instabile, bewegliche und bewegende Gemische, die meist ebenso vergänglich sind wie die Wahrnehmungen und Ausdrucksweisen der vielfältigen Beziehungen in der Welt. Affekte und Ansichten setzen ein Leben voraus, und es gibt kein Leben ausser dem kollektiven Leben. Die Gefahr liegt gerade in der affektiven Trennung und Unbeweglichkeit, in der Fixierung auf ein einziges Objekt. Und die affektive Fixierung tritt in dem Moment ein, in dem der Wahrnehmungsfluss unterbrochen wird, wenn wir die Fähigkeit verlieren, Kanäle zwischen verschiedenen Perspektiven zu schaffen. Wenn unsere Existenz so weit schrumpft, dass sie nur noch ein einsamer Funke in einer dunklen und flüchtigen Welt ist.
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Aggression, Erschöpfung, Klima- Angst und Endzeitstimmung. Die sich zunehmend überlagernden Krisen, existenziellen Bedrohungen und Verlusterfahrungen, die auch Europa wieder akuter betreffen, hinterlassen ihre Spuren im individuellen und kollektiven Gefühlsleben der Menschen. Das spiegelt sich in vielen künstlerischen Arbeiten. Affekte wie Angst und Hoffnung – das ist nicht neu – werden in Zuständen der Ungewissheit oft für geopolitische und wirtschaftliche Zwecke instrumentalisiert. Wie kann es gelingen, diese sowohl kognitiven als auch emotionalen Herausforderungen einzufangen und Ängste und Hoffnungen als geteilte Erfahrungen zu verarbeiten und bestenfalls für solidarische Lebenspraxis nutzbar zu machen? Die Philosophin Déborah Danowski ist eine Kennerin westlicher und nichtwestlicher Denkmodelle. Ausgehend von ihrer langjährigen Beschäftigung mit unterschiedlichen Weltuntergangsszenarien schlägt sie einen Bogen von Klimaprotest und Pandemiebewältigung zu den Visionen indigener Denker.
Zur Autorin
Déborah Danowski lebt in Rio de Janeiro, Brasilien, und lehrt moderne Philosophie. Sie ist Koautorin des Buchs «The Ends of the World» (mit Eduardo Viveiros de Castro), das zeitgenössische Weltuntergangsdiskurse einfängt und zeigt, wie sich menschliche Kulturen dem «Ende» auf unterschiedliche Weise nähern. Danowski ist Mitherausgeberin des neuen Sammelbands «Os Mil Nomes de Gaia» (2022). Anlässlich des diesjährigen Festivals veröffentlichen wir einen aktualisierten Auszug aus ihrem Beitrag für das internationale Kolloquium «The Thousand Names of Gaia. From the Anthropocene to the Age of the Earth».
Perspektiven aus dem künstlerischen Programm
Im diesjährigen Festivalprogramm gibt es verschiedene Perspektiven, die sich um Weltenuntergänge und den Grenzen des Menschlichen drehen. Mehr dazu hier.