Gier. Lust. Sucht.

Essay von Jovana Reisinger

Unmoralische Geschichten für Europa; Schöpfung und Untergang einer Zivilisation. Phia Ménards Stück «La Trilogie des Contes Immoraux (pour Europe)» fährt die ganz grossen Geschütze auf. Während Ménard im Krieger*innengewand auf der Bühne den Athener Parthenon aus Pappe nachformt, baut sie zugleich eine queere, mythologische Version eines fiktiven Europas. Sie öffnet den Blick für das grosse Ganze, wechselt immer wieder die Perspektive, greift Patriarchat und Neoliberalismus an, zeichnet Herrschaftsstrukturen nach. Unterwerfung, Gewalt, Zerstörung sind ständige Begleiter. Das Stück ist so bildgewaltig, dass der Versuch einer Erklärung, Nacherzählung oder Konkretisierung dem Epos nicht gerecht werden würde. Autorin Jovana Reisinger nimmt Ménards unmoralische Geschichten als Ausgangspunkt für eine Assoziationskette in Form des folgenden Textes. Die Verknüpfungen bewegen sich hier zwischen subjektiven Erfahrungen, Gefühlen, Urteilen und der Gesellschaft, die sie geformt hat.

 

Rom wurde nicht an einem Tag erbaut. Etwas dem Erdboden gleich zu machen, geht wesentlich schneller. Durch zerstörerische Gewalten (Krieg, Hass, Menschheit), oder auch das Wetter. Wie Regen, der plötzlich auf die Bühne fällt und das mühsam aufgebaute, tempelähnliche Konstrukt aus Pappe aufweicht und letztendlich unrettbar ruiniert. Die Betrachtung des Entstehens. Das Betrachten des Zerfalls. Lust, Gier, Lust. Theater kann so einen Raum schaffen. Kino auch. Kunst generell, vermag es, diese Zustände bei Konsument*innen zu erzeugen. Dieses Ausgeliefert-Sein. Ein vertrauter und hin und wieder extrem anregender Zustand. Dieses Sich-Hergeben, Sich-hingeben-Wollen. Die dabei erlebte Erregung ist abhängig davon, wer oder was in der Machtposition ist. Wer die Macht über uns innehält. Wem wir uns unterwerfen. Wie bei einer frischen Liebe oder der absurd harten Realität des Liebeskummers. Voyeurismus. Sowieso. Ist immer ein Thema. Geht gar nicht ohne. Dieses Hinschauen oder gar Starren. Gaffen. Ein erstes Date zu beobachten, kann so unangenehm sein. Eine Wunde, eine Gemeinheit, eine Ungerechtigkeit, eine Diskriminierung, ein Unfall, ein Missverständnis, ein Streit, ein Gespräch, ein sehnsuchtsvoller Blick, eine überraschende Geste. Gibt es die Schönheit des Moments, oder wäre es gut, die Schönheit entdecken zu können, damit es sich gelohnt hat, überhaupt hingeschaut zu haben? Für ein Stück, einen Film, einen Text bezahlt zu haben? Die Kosten-Nutzen-Rechnung. Lohnenswert wäre es, wenn etwas mitgenommen werden kann. Wenigstens eine gute Story. Denn selbst die schlechteste, mieseste Kunst muss doch für irgendwas gut sein. Zeitverschwendung. Ein anderer Begriff, für den genussvollen Umgang mit ihr.

Zur Klärung: die Form des Textes hat nicht unbedingt etwas mit der Beschaffenheit, Machart oder Inszenierung von Phia Ménards Stück zu tun. Der Drang, sich hier nicht einschränken zu lassen, begann schon bei der einfachen Überlegung zum Titel, der ins englische als «The Trilogy of Immoral Tales (for Europe)» übersetzt wurde. Wörter wie immoral oder unsittlich, anstössig oder verrucht, versetzen mich umgehend in einen Rausch. Eine gedankliche Abfolge, wobei das zu ungenau ist, es ist eine gedanklich parallel existierende Struktur, so wie in Wirklichkeit. Rhizomartig, klar. Vernetzungen, alles hängt miteinander zusammen, auch hier. Alles bezieht sich aufeinander, kann erst in der Dichte funktionieren. Europa. Ein so grosser Begriff, eine so schöne Flagge, eine Identifikationsmöglichkeit. Unmoralische Geschichten für dieses Europa. In dem wir uns befinden. In dem Kämpfe ausgetragen werden.

Unmoralische Angebote. Wer kann sie nicht ablehnen? Netzwerke, Überwachung, Arbeitsverhältnisse, Neoliberalismus, Patriarchat, Dominanz- und Unterwerfungsstrategien führen mich nonchalant zu Dating-Apps, dick pics, ausbeuterische Beschäftigungen und Tätigkeitsfelder, Klassismus und Elitenbildung, unüberwindbare Hindernisse und Gemeinheiten. Wo stehe ich, pardon, das grosse Ganze nicht aus den Augen verlierend, wo stehen wir, wo ich doch selbst in diesem Text letztendlich nur für mich schreiben kann. 

Es ist heiss. Die Natur noch irgendwie grün, aber es wirkt so, als wären wir schon wesentlich weiter im Jahr. Ich schicke ein Foto von einem schwelenden Himmel in einen Chatverlauf. Dystopische Schönheit. Als Antwort folgt ein Herz. Später ein Foto von vollen, prallen Lippen und einer Hand, die ein Eis hält. Ich schmelze. Mentale Gesundheit. Übergriffe. Ich komme immer wieder zur Gewalt zurück. Unterwürfigkeit. Von welchen Strukturen wird sie aktiv und konkret gefordert und welche zwingen einen mühelos, aber kaum merklich zur Selbstaufgabe? Scham, Schmerzen und die Riten drumherum. Letzte Woche hielt mich ein Mann am Arm fest, sagte, wenn ich ihn jetzt so stehen liesse, wäre das aber nicht nett. Ein anderer Mann rieb seinen Penis an meinem Po, während ein offizielles Foto geschossen wurde. Ich lächelte freundlich weiter. Rollenverständnisse, Grenzen, die Frage, in welche Kämpfe investiert man. 

Auf Instagram stand «nett sein ist das neue cool». Ich musste lachen. Resilienz. Geilheit auf Stress und selbst die absurdeste Aufgabe noch zu schaffen. Überperformerin. Kollateralschäden werden in Kauf genommen. Auf privater, aber auch gesamtgesellschaftlicher Ebene. Es sind die einfachsten Fragen: Wer stellt meine Kleidung her, woher kommt mein Gemüse, wen begehre ich? Wie wird produziert, wer hat eine Stimme, wer bekommt Ressourcen, um eine Geschichte zu erzählen? Strukturen. Überhitzung. Angebote. Exitstrategie. Es gibt so viele. Welche passt? Eine Timingfrage. So wie immer. Letzten Endes ist alles immer eine Frage des Timings. Wie viel Zeit ist gerade noch genug? Wie lange darf es dauern, bis es unerträglich, bis es ruiniert, bis es unendlich schön geworden ist? Wie lange bleibt das Publikum im Saal, die Energie, die Erwartung oben? Wie lange halten wir es aus, dass nicht gesprochen wird, dass wir nicht begreifen, was auf dieser Bühne geschieht, wir nicht wissen, wie wir uns verhalten sollen? Das Gemeine ist, man weiss es meistens erst hinterher. Spannend. Na hoffentlich ists dann nicht zu spät gewesen. Und selbst wenn: bis zum nächsten Mal. Gier. Lust. Sucht.

 

«La Trilogie des Contes Immoraux (pour Europe)» von Phia Ménard & Cie. Non Nova feiert am 18. August 2022 am Zürcher Theater Spektakel Schweizer Premiere. Weitere Informationen und Tickets.

Credits

Text: Jovana Reisinger